Der vergessene Pfad

Neulich habe ich eine Entdeckung gemacht. Ich habe einen Pfad wiederentdeckt, an dem ich mehrere Jahre vorbeigelaufen bin, ohne dass ich ihn vermisst hätte.
Zur Erklärung: Ich gehe sehr gerne mit meiner Hündin in ein nahegelegenes, kleines, Wäldchen. Dort kann ich das Ballspiel mit ihr abwechslungsreich gestalten. Sie kann nicht nur apportieren, sondern mir auch das Bällchen aus niedrigen Astgabeln holen, von schlanken Ästen, auf die ich es gesteckt habe, abziehen und auch Suchspiele stehen hoch im Kurs. Wir sind also wirklich oft da. Ab und zu begleiten uns die Katzen und wir schlendern dann gemeinsam und erkunden alles.
Früher gab es jemanden, der dort ein bisschen für Ordnung gesorgt hat. Über den Weg wuchernde Triebe verschnitten, Dickicht ausgedünnt oder abgesenst usw. Irgendwann wucherte dann alles so, wie Mutter Natur es für richtig hielt. Niemand gebot dem mehr Einhalt und wir konnten nur noch den Hauptweg benutzen. Das war nicht schlimm, wir fanden ja genug Beschäftigung. Aber der eine Pfad am Randes des Waldes war nicht mehr begehbar und geriet deshalb in Vergessenheit. Bis vor Kurzem.
Die Trockenheit der letzten Jahre sorgte dafür, dass die kleineren Pflanzen nicht mehr genug Wasser bekamen. Der Winter erledigte den Rest und dann war da dieser einer Spaziergang, an dem ich staunend am Eingang dieses Pfades stand und mich erinnerte, dass er da war. Natürlich war er immer da gewesen, nur dass ich ihn nicht mehr benutzen konnte und er deshalb in Vergessenheit geriet. Es kam mir wie ein kleines Wunder vor. Ein zauberhafter Moment. Und dann habe ich ihn zusammen mit meinen Tieren neu erkundet und mich gefragt, wieso ich ihn vergessen konnte.
Vermutlich ist es so, wie mit allen Dingen, die wir nicht mehr benutzen, die in Schubladen liegen und somit unserem Blick entzogen sind. Wir vergessen, dass es sie gibt. Aber auch Dinge, die wir täglich sehen, nehmen wir oft nicht mehr wahr, weil sie selbstverständlich und alltäglich geworden sind.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind oft ein Spiel gespielt habe. Ich tat so, als sei ich völlig neu in der Stadt, in unserem Haus, unserer Wohnung, meinem Zimmer. Das war erstaunlich. Ich sah praktisch alles durch die Brille von jemandem, der es noch nie gesehen hat.
Versucht es auch mal. Es birgt eine völlig neue Sichtweise und hat den Effekt, dass wir zum Beispiel die abgeriebenen Kanten unseres Lieblingssofas wahrnehmen, aber gleichzeitig die Schönheit der Zimmereinrichtung neu sehen. Wir sehen auch geliebte Menschen mit neuen Augen, sehen die Falten und die grauen Haare und empfinden doch gleichzeitig Liebe, weil wir gemeinsam mit ihnen altern dürfen. Es ist fabelhaft, wie unsere Welt zu funkeln beginnt, wenn wir es zulassen und den Dingen und Menschen die Aufmerksamkeit widmen, die ihnen gebührt.
Als Autorin bringe ich auch Dinge zum Funkeln. Ich nehme einen Text und putze und schleife ihn so lange, bis ich ihn mit neuen Augen ansehen kann. Manchmal fallen mir dabei Dinge ein, die ich vergessen habe und die nun wieder ans Tageslicht kommen und Bestandteil einer meiner Geschichten werden dürfen. Dieses Mal schreibe ich sie aber auf, damit sie mir nicht wieder zuwachsen!
PS: Das Foto ist ein Netzfund. Mein vergessener Pfad ist nicht ganz so spektakulär, aber besitzt dennoch eine Schönheit, die wahrscheinlich nur ich schätzen kann.