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Die Wege des Herrn


Ich beende die Seite mit einem schön verschnörkelten S und hoffe, Bruder Franziskus wird zufrieden sein mit meiner Arbeit. Die ganze Woche schrieb ich an diesem Text, malte Buchstaben für Buchstaben. Manierlich stehen sie beieinander, in gleichmäßigen Abständen und sehen aus, wie kleine Soldaten. 

Mein Blick sucht das Pergament nach Tintenspritzern ab und möchte sich doch stattdessen so gerne dem hellen Licht des Sonnenstrahls anvertrauen, der seinen Weg zu mir in die Schreibstube gefunden hat. Das Pergament ist perfekt, soweit ich das beurteilen kann. Jedoch… Bruder Franziskus entdeckt auch den kleinsten Fehler. Ich muss abwarten, ob meine Arbeit seine Zustimmung findet, ehe ich meine Feder reinigen und in den Hof gehen darf. Vielleicht kann ich Bruder Ernestus noch ein wenig im Garten helfen. 

Am Nachbarpult steht Bruder Alonsius. Er ist tief über das Pergament gebeugt, das er transkribiert. Graue Haare umkränzen seinen bleichen, kahlen Hinterkopf. Ob ich auch einmal so enden werde, wie er? Alt, den Rücken krumm, die Finger geschwollen und weiß im Gesicht, weil ich die Sonne zu selten gesehen habe?

Bruder Alonsius wechselt hin und wieder die Stellung seiner Füße. Sie schmerzen, wie die meinigen auch. Ob noch etwas von dem Pfefferminzöl in der Vorratskammer ist? Gottes natürliche Gaben wirken Wunder bei überanstrengten Gliedmaßen. Aber zuvor schickt der Herr den Schmerz, um uns daran zu erinnern, dass Gottes Werk zu tun, Mühsal und Qual bedeutet. 

Manchmal frage ich mich, warum der Herr mich mit dieser zierlichen Handschrift gestraft hat. Viel lieber würde ich im Garten arbeiten, den Spaten in den Boden stechen, die Saat ausbringen oder selbstgezogene Pflänzchen setzen, auf dass sie wachsen und gedeihen. Stattdessen hat er mich mit dieser Bürde geschlagen, die mich dazu verdammt, jeden Tag an diesem Pult zu stehen und ein Pergament nach dem anderen mit Buchstabensoldaten zu füllen. Wenn doch nur Bruder Franziskus käme, mich zu erlösen. Und, Herr, vergib mir, könntest du dafür sorgen, dass jemand anderer meinen Platz ab morgen einnimmt?

***

Als ich die Tür öffnete, sah Bruder Aegidius mich erschrocken an. Als ob ich ihn gerade bei unreinen Gedanken ertappt hätte. 


„Aegidius, habt ihr euer Werk für heute schon vollbracht?“

„Ja, Bruder Franziskus, das habe ich. Wollt ihr es sehen?“

Der kleine Kerl trippelte schon ungeduldig mit seinen Füßen. In seinem Alter war ich genauso. Es wird ihm gut tun, sich noch ein wenig zu mäßigen.

„Habt noch einen Moment Geduld, Bruder Aegidius. Lasst mich zuerst nach Bruder Alonsius sehen.“

Für einen Moment stand Enttäuschung in Bruder Aegidius´ Gesicht geschrieben, dann senkte er demütig das Haupt und ich konnte nur noch seine Tonsur sehen. 

Während ich mit Bruder Alonsius dessen Tagwerk betrachtete, nahm ich durchaus wahr, wie der Kleine, wie wir ihn heimlich nannten, seine Ungeduld zu zügeln suchte. Er war der drittälteste Spross aus dem Hause derer zu Niemburgs und seit etwa zwei Jahren bei uns. Anfangs war er etwas unbeholfen, aber schnell erkannten wir sein Talent beim Schreiben längerer Texte. Selten sah ich eine schönere, regelmäßigere Schrift. Und dennoch… Da, er hoppelte wieder vom linken auf den rechten Fuß und zurück, wie ein Fohlen, das zu lange angebunden war. Er ist jung, er muss hinaus in die Natur. 

Aber vor die Freude hat der Herr die Prüfung gestellt. 

„Müsst ihr Wasserlassen, Bruder Aegidius?“

Innerlich grinste ich, als er erschrocken aufsah und stammelte. „Äh, nein, Bruder Franziskus.“

Verlegen schlug er die Augen nieder und versuchte, seine Füße im Zaum zu halten. 

Bruder Alonsius warf mir einen verschmitzten Blick zu. Wir verstanden den Jungen ja nur zu gut.

„Dann zeigt mir nun euer Pergament, Bruder Aegidius.“ Ich hielt ihm meine Hand auffordernd hin und registrierte, wie eilfertig der Kleine an sein Pult stürzte. 

Das Ergebnis seines heutigen Tuns war exzellent. Er hatte sich den Gang an die frische Luft wahrlich verdient. Und auch das, was ich ihm im Auftrag des Priors zu sagen hatte. 

„Bruder Aegidius, das habt ihr ganz vorbildlich gemacht.“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, wurde aber sogleich von seiner Ungeduld vertrieben. 

„Ihr habt euch hier in der Schreibstube inzwischen unentbehrlich gemacht.“

Den Blick des Kleinen konnte ich nicht deuten. Wäre es nicht verboten, würde ich auf eine Mischung aus Stolz und Verzweiflung wetten. Der Herr möge mir verzeihen.

„Zum Dank für eure hervorragenden Dienste sollt ihr ab morgen die Transkription der Texte für den Herrn Grafen ganz allein übernehmen.“

Bruder Aegidius sah mich an, als ob ich ihn gerade zum Tod verurteilt hätte. Ich holte hörbar Luft und machte eine kleine Pause. 

„Und der Prior wünscht, …“, ich nahm ein Tuch aus meiner Tasche und schnäuzte mich umständlich hinein, während der junge Bruder mich mit aufgerissenen Augen anstarrte.

***

Oh, nein, Herr! Warum prüfst du mich derart? Sollte ich nicht stolz sein ob der Ehre, die mir gerade zuteilwird? Sollte ich nicht Dankbarkeit empfinden? Und empfinde doch nur Schrecken, Verzweiflung gar?

In mir stürzen zwei Türme zusammen. Der eine hieß Hoffnung, der andere…Freude? Ihre festen Mauern bersten, sie neigen sich zur Seite, entlassen Stein für Stein aus ihrem Verbund, welche in die Tiefe stürzen, zusammen mit meinem Lebensmut. Es poltert in mir drin, als ob dort tatsächlich etwas zu Bruch geht, unaufhaltsam.

Gleichzeitig fühle ich mich schuldig. Ist mein Glaube nicht groß genug, um anzunehmen, was Gott für mich vorgesehen hat? Sind Gottes Wege nicht unergründlich? Steht es mir zu, daran zu zweifeln, welche Aufgabe ER für mich auswählt?

Meine Gedanken rasen, während ich nicht in der Lage bin, mein Gesicht, meine Lippen oder etwas anderes zu bewegen. Mir ist, als ob Bruder Franziskus´ Stimme von weit her kommt.

Und dann dringt sie doch zu mir vor und erfüllt mich mit Glückseligkeit und Demut vor unserem Herrn, gleich einer Rose, deren Knospe sich zu voller Pracht entfaltet.

„Also Bruder Aegidius, der Prior wünscht, dass ihr immer am Nachmittag, zwischen Mittagessen und Vesper, Bruder Ernestus zur Hand geht. Die Gartenarbeit ist für ihn allein inzwischen zu anstrengend.“

Oh, wie ich das Leben liebe! In mir rauscht Freude und ich weiß, Gott versteht mich.

Danke, oh Herr!