Vergangenheit festhalten, loslassen, speichern?

Diese Frage hat sich vermutlich schon jeder in seinem Leben gestellt und ist wahrscheinlich zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Je nachdem, wie angenehm oder unangenehm die Erinnerung ist.
Habt ihr auch schon festgestellt, dass man sich an die unangenehmen Dinge aus der Vergangenheit weitaus deutlicher erinnert, als an die schönen Momente (Ausnahmen bestätigen die Regel)? Die schönen Momente verwischen oft, mischen sich und überlagern sich. Manchmal fragen wir uns: war das damals tatsächlich so? Oder verwechsle ich da gerade etwas?
Mobbingopfer oder Opfer von Verbrechen vergessen selten das, was ihnen angetan wurde. Vielleicht lackiert das Leben ein paar Schichten Farbe drüber, aber im Untergrund ist dieser schlimme Teil ihrer Vergangenheit doch stets präsent und kann sofort abgerufen werden. Da genügt ein Geruch, ein Name, ein Ort, eine Stimme… Selbst wenn wir uns die größte Mühe geben, diesen Teil unseres Lebens loszulassen, um Vergessen zu können, gelingt dies nur in seltenen Fällen.
Vergangenheit zeichnet uns. Sie hinterlässt Narben auf dem Körper und der Seele und wir können sie nicht nach Belieben loslassen.
Wir können vielleicht, auch das gelingt nicht immer, bewusst damit umgehen, welchen Einfluss unsere Vergangenheit auf uns hat. Nicht jeder hat traumatische Erinnerungen, aber jeder hat eine Vergangenheit, die ihn mehr oder minder beschäftigt.
Klammern wir uns daran, weil wir beispielsweise einen geliebten Menschen verloren haben und nicht loslassen können? Sehen wir uns immer und immer wieder Fotos dieser Person an, um sie nicht zu vergessen, um die Wunde nicht heilen zu lassen?
Legen wir uns Gegenstände auf den Speicher, heben Postkarten und Briefe auf, um nicht zu vergessen, wie das damals war?
Schauen wir unsere Kinderbilder an, Bilder einer glücklichen Zeit, um uns daran zu erinnern, wie sorgenlos und sorglos wir damals waren?
Vergangenheit ist Emotion, ist Bestandteil unseres Seins und deshalb untrennbar mit uns verbunden.
Erinnern wir uns an die erste verliebte Zeit, aber ja!
Erinnern wir uns, dass wir beim Sport stets als Letzter in die Mannschaft gewählt wurden? Dreimal ja!
Erinnern wir uns an die hinterlistige Kollegin, die vorgab, unsere Freundin zu sein? Erinnern wir uns, dass wir fast ertrunken wären? Und erinnern wir uns daran, als wir uns so fürchterlich blamiert haben? Nochmal ja, ja, ja!
Wie geht man damit um? Wie trennt man die gute von der schlechten Vergangenheit, wie gelingt es, zu vergessen, loszulassen und nur das zu speichern, was schön war?
Für die schönen Zeiten gibt es viele probate Mittel. Fotos, Videos, Erinnerungsstücke.
Für die schlechten Zeiten bedarf es eines bewussten Umgangs, vielleicht mit Hilfe von Ritualen.
Für die ganz schlechten Zeiten gibt es meiner Meinung nach keine Chance, zu vergessen. Man kann bestenfalls lernen, damit umzugehen, damit Vergangenheit Vergangenheit bleibt und der Fokus sich auf die Gegenwart und die Zukunft richten kann.
Ich bin jemand, der Vergangenheit am liebsten mittels Fotografie bewahrt und deshalb würde ich, wenn zum Beispiel ein Feuer ausbricht, keine Wertsachen retten, sondern meine Fotoalben.
Auch habe ich von allen meinen nicht mehr lebenden Familienmitgliedern ein kleines Erinnerungsstück aufbewahrt. Zugegeben, anfangs waren es mehr. Da war die Trauer noch frisch, konnte ich nicht loslassen und benötigte die Gegenstände, die mir vererbt wurden, um das Gefühl zu haben, diese Menschen (und auch Tiere) nicht zu vergessen.
Es brauchte Zeit, aber ich konnte mich so nach und nach lösen. Mir war ja schon von Anfang an klar, dass ich nicht alles behalten konnte. Dennoch… Diese Dinge aufzubewahren, war mir eine zeitlang wichtig und das ist völlig in Ordnung.
Auch die negativen Dinge der Vergangenheit haben inzwischen weniger Gewicht und beeinflussen mein Leben nicht mehr, weil ich es nicht zulasse. Sie sind natürlich noch da, ganz weit unten in der gedanklichen Kramkiste. Aber ich gebe ihnen keinen Raum mehr.
Im Schreiben verwende ich diese Erfahrungen durchaus gerne. Die negative Vergangenheit genauso wie die gute. Und so führe ich sogar die schlechten Dinge einer Verwendung zu und kann sie auf diese Weise noch ein bisschen mehr loslassen.
Jemand fragte einmal, wieviel von mir in meinen Texten steckt. Grad bei den Geschichten, die aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, führt das gern mal zu falschen Annahmen. Ich könnte jetzt schreiben: nein, ich bin noch nicht auf einem Drachen geritten, ich habe niemanden umgebracht und ich war auch noch nicht unglücklich in einen Bäckergesellen verliebt. Aber natürlich steckt in meinen Geschichten ganz viel von mir selbst drin, von dem, was ich denke und glaube und fühle, träume, wünsche oder hasse und von dem, was ich erlebt habe. Nur, glaubt mir, es ist sehr gut verpackt!