Leseproben/Kurzgeschichten
Das Zusammentreffen
Das war nun schon die zweite Verfolgung, die Gislinde heute aufnahm. Aber sie konnte nicht anders. Der Schock, Falk so unmittelbar beim Lügen zu erwischen, hätte ihr das Hirn vernebeln müssen. Das Gegenteil passierte jedoch. Gislinde konnte glasklar denken und das war gut so.
Die ersten Schritte der fremden Frau hinterher fielen zögerlich aus, nicht nur, weil Gislinde sich komisch vorkam, sondern weil sie überlegte, was das bringen sollte. Die Frau war augenscheinlich verliebt in Falk und wusste wahrscheinlich nicht, dass die Konkurrenz in Gestalt Gislindes ihr so dicht auf den Fersen war. Wusste wahrscheinlich gar nicht, dass eine Konkurrenz überhaupt existierte.
Würde sie Gislinde glauben? Würde sie überhaupt mit ihr reden wollen?
Die Frau schlenderte ein paar Schritte bis zum nächsten Schaufenster. Ob sie sah, was dort ausgestellt war oder ob sie sich nur im spiegelnden Glas bewunderte? So, wie man es machte, wenn man glücklich war und wollte, dass es jedermann sehen konnte?
Ganz innendrin hoffte Gislinde, dass sich alles noch als Irrtum herausstellen würde. Dennoch war ihr klar, dass sie nur jetzt eine Chance hatte, die Sache aufzuklären.
„Entschuldigung!“
Gislinde
Gislinde schob die Zunge nach vorn, presste sie an die Schneidezähne und lispelte: „Tsanpazsta“. Gleich darauf sang sie im hohen Falsett: „Zahan Pastaahaa“. Zahnpasta gehörte heute auf ihre imaginäre Einkaufsliste und das immerwährende Wiederholen des Wortes in unterschiedlichen Tonlagen und Dialekten machte nicht nur Spaß, sondern sorgte dafür, dass der Begriff im Gedächtnis blieb. „Zaaahnpastaaa.“ Charles Bronson drehte sich wahrscheinlich gerade vor Neid im Grab herum, während das kratzige Wort Gislindes Kehle verließ. Sie lächelte, trennte ihr Handy vom Ladekabel und probierte es noch eine Nuance tiefer. „Zahnpastaaaa.“
Sorgfältig wickelte sie das Kabel auf und hängte es an den dafür vorgesehenen Haken. Das Handy verstaute sie in der Handtasche, schloss den goldfarbenen Knebel und ließ kurz den Blick schweifen. Sie konnte es nicht leiden, wenn sie eine unordentliche Wohnung verließ. „Shamm-Puuuh.“ Gislinde zog die Tür ins Schloss und schickte noch ein gehauchtes „Zaahn pastah“ hinterher.
Im Bus gingen ihr unzählige Varianten des Wortes Brot durch den Kopf. Das war das Dritte auf der Liste. Brott, Zaaahnpastah und Schammpu. Natürlich sprach Gislinde nichts davon laut aus. Sie wollte schließlich nicht weggesperrt werden. Aber allein der Gedanke, wie zwei Männer in weißen Kitteln sie packten und zu einem Krankenwagen schleiften, während sie lauthals in unterschiedlichen Stimmlagen ihren Einkaufszettel herausbrüllte, brachte ihre Mundwinkel zum Zucken.
Früher hatte sie dieses Spiel gern mit ihren Sechstklässlern gespielt. Es gab nichts Besseres, um das Gefühl für Worte und deren richtige Betonung zu trainieren und gleichzeitig das Gedächtnis auf Vordermann zu bringen. Damals hatte das Unterrichten noch Spaß gemacht. Das schien Äonen her zu sein.
Der Bus fuhr inzwischen an der Uferstraße entlang und näherte sich dem Stadtzentrum, in dem Dank des sonnigen Wetters besonders viele Touristen zu sein schienen. Gislinde beschloss, ihren Bummel durch die Lädchen auf einen anderen Tag zu verschieben und tatsächlich nur Brohoot, Tzanpastaah und Shaaampuuu zu besorgen. Sie überlegte gerade, in welche der drei möglichen Richtungen sie aufbrechen sollte, da fiel ihr zwischen all den leger gekleideten Touristen ein Pärchen auf. Die Frau trug einen hübschen Strohhut und ein elegantes Kleid, das mit Mohnblumen bedruckt war. Der Mann war ebenfalls elegant gekleidet. Grauer Anzug und ein Fedora, unter dem blonde Haare hervorlugten. Er hatte der Frau vorsorglich die Hand auf den Rücken gelegt. Vielleicht etwas zu tief, um nur ein Bekannter zu sein. Auch sonst sahen sie sehr vertraut miteinander aus.
Irgendetwas kam ihr besonders vor an den Beiden, aber Gislinde konnte es nicht zuordnen. Das Lachen der Frau? Wie der Mann ging, wie er den Kopf neigte? Oder wie sie ihn ansah?
Gislinde bedauerte, dass Falk nicht in der Stadt war. Und sie bedauerte, dass Falk nie Hüte trug. Hüte gaben Männern erst die richtige Ausstrahlung, fand sie.
Ein sehr dicker Mann mit breiten Hosenträgern über der ausladenden Wampe drängte Gislinde zur Seite. Unwillkürlich schob sie sich näher an das Paar heran, konnte nun die lose Haarsträhne im Nacken der Frau erkennen und die breiten Schultern ihres Begleiters bewundern, dem der Anzug vorzüglich stand. Einen Augenblick fand sie ihre Neugierde beschämend. Sie war ja schließlich kein Teenie mehr, der fremden Leuten hinterherstarrte. Allerdings war es ja auch nicht verboten, sich für Menschen zu interessieren, die derart auffielen.
Sie folgte den beiden ohne Zögern die Treppenstufen hinauf, die in das historische Bankgebäude hineinführten. Innerlich kicherte sie über ihr kindisches Benehmen. Aber sie spürte auch ein prickelndes Gefühl, das ihr gefiel.
Aus der Nähe sah Gislinde, dass die Frau eigentlich nicht so schlank war, wie sie im ersten Moment angenommen hatte. Während der Oberkörper recht schmal war, wiesen die Hüften eine deutlich ausladendere Form auf. Das Kleid war jedoch so gut geschnitten, dass es dieses Manko hervorragend verbarg. Gislinde pfiff leise und beneidete die Dame um ihre Schneiderin. Denn dass dies kein Kleid von der Stange war, sah sie deutlich.
Beim Betreten des Gebäudes nahm der Mann den Hut vom Kopf. Das sah man ja heutzutage nur noch selten. Und da durchfuhr es Gislinde. Der Wirbel auf seinem Kopf und vor allem der Ring an seiner Hand waren ihr gut bekannt. Fast hätte sie vergessen zu atmen.
Das war doch nicht möglich!
Falk, um den es sich augenscheinlich handelte, hielt der Frau die Tür auf, würdigte Gislinde, die einige Stufen darunter verharrte, jedoch keines Blicks. Gislinde schnappte nach Luft. Nein! Hatte Falk vielleicht einen Doppelgänger?
Aber der Ring? Dem musste sie auf den Grund gehen.
Sie wühlte in ihrer Handtasche nach ihrer Sonnenbrille, setzte sie auf und betrat die Bank. Ihr Herz klopfte so laut, dass Gislinde fürchtete, alle könnten es hören.
Die Bankhalle war ein Beispiel für eine gelungene Verbindung von historischen Interieur und Moderne. Ein Teil der Schalter, an denen die Kunden bedient wurden, bestand aus dunklem, mit Schnitzereien verziertem Holz, wie es im Jugendstil üblich war. Daneben war ein größerer Bereich geöffnet worden, dessen zeitgemäße Möblierung in erstaunlich harmonischem Kontrast zu den übrigen Einrichtungen stand. Normalerweise hätte Gislinde diese gelungene Symbiose mit Kennerblick bestaunt. Nur im Moment hatte sie kein Auge dafür.
Der riesige Raum wurde von zahlreichen Säulen gestützt, welche Gislinde nun nutzte, um erst einmal aus dem Sichtfeld zu verschwinden. Sie fummelte in ihrer Handtasche und tat, als ob sie etwas suchen würde. Dabei spähte sie unauffällig um die Säule und sah das Paar an dem Ständer mit den Überweisungsformularen stehen. Gislinde fasste allen Mut und stakste mit wackligen Knien hinter dem Rücken der beiden zu einer Sitzgruppe, die etwas seitlich hinter der nächsten Säule stand. Von dort hatte sie eine bessere Aussicht auf das weitere Geschehen. Dann atmete sie tief ein und flüsterte beim Ausatmen: „Tseisse.“ Sie schob den Kopf nach vorn und erblickte Falk und seine Begleiterin an einem der Pulte, an denen man Formulare ausfüllen konnte. Falk hatte seine Hand erneut auf dem unteren Rücken der Dame platziert, der diese Berührung wohl sehr angenehm war. Jedenfalls war deutlich zu sehen, wie sie ihren mohnblumenverhüllten Po gegen Falks Hand drückte. Diese Schlampe!
Deutlich sah Gislinde nun auch den Ring an seinem Finger. Groß, eckig, mit einem auffällig gefärbten Septariekristall, über dem sich ein Schwert und eine Feder kreuzten. Es war der Lieblingsring ihres Vaters, eine Einzelanfertigung. Unwillkürlich äugte Gislinde auf ihre eigene Hand, die ein schmaler Goldreif mit einem kleinen, herzförmig gefassten Edelstein zierte. Falk hatte ihn ihr als Dankeschön für ihre Hilfe und als Zeichen seiner Zuneigung überreicht, woraufhin sie sich verpflichtet gefühlt hatte, ihm ebenfalls ein Geschenk zu verehren. Sie war so überzeugt davon gewesen, dass Falk Vaters Ring genauso in Ehren halten würde, wie sie.
Beim Anblick von Falks Hand mit dem Ring auf dem Po der fremden Frau stieg in ihr Hitze empor.
Aber was, wenn sie das Gesehene falsch deutete? Was, wenn alles ganz harmlos war? Gislinde versuchte, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Es müsste sich ja aufklären lassen, wer die Dame war und warum Falk so vertraut mit ihr umging. Sie würde die beiden nicht mehr aus den Augen lassen.
Von ihrem Sitz aus konnte sie nur die Rückenansicht der beiden sehen. Was Falk zu der Dame sagte, konnte Gislinde nicht verstehen. Sie lauschte mit angehaltenem Atem und hoffte, dass sie doch ein paar Worte aufschnappen konnte. Das beruhigende Timbre seiner Stimme erinnerte sie an gemütliche Stunden, die sie und Falk miteinander verbracht hatten.
Während ihre Ohren wie Schalltrichter versuchten, etwas zu verstehen, rotierten die Gedanken in Gislindes Kopf. Hatte Falk einen Zwillingsbruder, dem er den Ring ihres Vaters weiterverschenkt hatte? Ihr Zeichen der Liebe? Das war unglaublich und doch… Aber nein! Falk war auf dem Versicherungskongress. Als Gastredner. In Berlin. Da konnte er doch nicht gleichzeitig hier sein. Er wollte dort die Gelegenheit nutzen, die Bearbeitung seines eigenen Falles zu beschleunigen. Das abgebrannte Mehrfamilienhaus. Für das sie ihm fast ihr gesamtes Erspartes geliehen hatte.
In Gislindes Bauch grummelte es auf einmal ganz fürchterlich.
Was, wenn…?
Nun gingen die beiden hinüber zum Schalter, vor dem noch zwei Personen auf Abfertigung warteten. Gislinde senkte schnell den Kopf, als Falk den Blick durch den Raum schweifen ließ. Nach ein paar Sekunden blickte sie wieder hoch, um nichts zu verpassen. Nun nahm sie auch seinen Dreitagebart wahr. Wo er doch so vehement Bärte als unzivilisiert verabscheute. Gislinde wurde immer verwirrter.
Jetzt blickte auch die Dame in die Runde. Ihr Gesicht kam Gislinde vage bekannt vor, aber sie hätte nicht sagen können, ob sie die Frau tatsächlich schon einmal getroffen hatte. Nicht mehr jung, aber leidlich hübsch war sie.
Gislinde nahm sich ein Prospekt und hielt es so, dass niemand ihr eigenes Gesicht komplett sehen konnte. Ihre Hände zitterten.
Die Frau lehnte sich an Falk, schob eine Hand um seine Taille und legte ihren Kopf an seine Schulter. Sehr verliebt war sie, so schien es. Gislinde fühlte sich, als ob jemand ihr ein Messer in die Brust gerammt hatte. Sie konnte nicht glauben, dass dies tatsächlich Falk war. Aber der Ring sagte ihr die Wahrheit. Der Ring, der zusammen mit der Hand nun wieder auf dem Po ruhte. Oder doch nicht?
Sie hatte im Augenblick so gar keinen Einfall, wie sie die Wahrheit herausbekommen sollte. Es wäre ihr unerträglich, feststellen zu müssen, dass sie wildfremde Menschen verdächtigt hätte. Was für eine Blamage!
Andererseits wäre es ihr noch deutlich unerträglicher, herausfinden zu müssen, dass Falk sie betrog. Dabei kannten sie sich noch gar nicht lange. Als sie sich bei der Benefizgala zu Gunsten krebskranker Kinder getroffen hatten, schwebte sofort Magie zwischen ihnen. So etwas war Gislinde noch nie geschehen, selbst, als sie damals Edgar kennengelernt hatte. Sogar Falk hatte bestätigt, dass er noch nie so eine spontane Zuneigung empfunden hatte. Auf den ersten Blick. Und es störte ihn überhaupt nicht, dass Gislinde deutlich älter war als er. „Dann ist wenigstens der Kinderwunsch vom Tisch“, hatte er gescherzt und Gislinde damit das Gefühl vermittelt, dass sein Interesse an ihr echt war und er nicht nur Smalltalk betrieb.
Natürlich fühlte sie sich geschmeichelt. Es war lange her, dass ein Mann ihr Avancen gemacht hatte. Und so ein gutaussehender dazu. Vielleicht weigerte sie sich deshalb zu glauben, dass Falk sich hinter ihrem Rücken einer anderen Frau zuwenden würde. Vor vier Tagen, bevor er nach Berlin aufgebrochen war, hatten sie noch liebevoll miteinander telefoniert. Zu einem Treffen war es, nachdem sie ihm das Geld für die Instandsetzung des Miethauses vorgeschossen hatte, wegen seines vollen Terminkalenders noch nicht wieder gekommen. Seine zärtlichen Worte waren voller Dankbarkeit und hatten Gislinde wie immer berauscht. Dieser Rausch verflog nun angesichts der Tatsache, dass da vorne ein Mann mit einer fremden Frau liebevolle Berührungen tauschte, der so aussah wie Falk und die gleiche Stimme hatte. Und der den Ring ihres Vaters trug.
Gislinde wechselte noch einmal die Position, stellte sich etwas seitlich hinter die beiden und tat erneut so, als ob sie etwas in ihrer Handtasche suchte. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ein Wachmann sie aufmerksam musterte. Der glaubte womöglich, dass sie die Bank überfallen wollte?
Ihre Kehrseite fühlte sich nass an und Gislinde bemerkte, dass der Schweiß ihr auch von der Stirn tropfte. Du meine Güte!
Schnell kramte sie ihren Ausweis heraus und einen Stift, guckte erleichtert, als hätte sie gerade den Koh-i-Nor gefunden und strebte dem Tischchen zu, auf dem sich eine Auswahl an Formularen befand.
Der Wachmann wandte seinen Blick ab und Gislinde spürte, wie ihr der Schweiß nun auch die Achseln durchnässte. Gott, war das peinlich.
Durch ihr Ablenkungsmanöver hatte sie allerdings verpasst, wie Falk und seine Begleiterin die Transaktion am Schalter abgeschlossen hatten. Die beiden waren bereits auf dem Weg nach draußen.
Gislinde schluckte. Was nun? Sollte sie die beiden verfolgen oder doch erst einmal versuchen, Falk telefonisch zu erreichen, damit er ihren Irrtum aufklären konnte?
Vielleicht konnte sie beides parallel machen.
Sie eilte dem Paar hinterher und drückte, während sie ihnen mit Abstand die Treppenstufen hinabfolgte, die Wahlwiederholungstaste auf ihrem Handy.
Dann der Schock! Tatsächlich blieb der Mann stehen, fingerte sein Handy aus der Tasche des Jacketts und sah darauf. Er nickte seiner Begleiterin zu, sagte ein paar Worte und wandte ihr dann leicht den Rücken zu. „Wiesemann.“
Gislinde bleib der Atem stehen. Was sollte sie sagen? Sie hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf Falks Rücken,
Dann gab sie sich einen Ruck. „Äh, Falk, hallo. Ich wollte nur kurz hören, wie es läuft in Berlin?“
Falk ging indessen ein paar Schritte weiter. „Ach, schön, dass du dich meldest. Es läuft schlecht.“ Den letzten Ton zog er nach oben, als hätte er eine Frage gestellt. Nach einer kurzen Pause: „Ich versuche, das zu regeln, versprochen. Ich melde mich dann sofort.“
Er legte auf, ohne dass Gislinde Gelegenheit hatte, noch etwas zu sagen. In ihr stach etwas, das sich anfühlte, als hätte ihr jemand ein lebenswichtiges Organ entnommen.
Sie starrte Falk an, der sich seiner Begleiterin zuwandte, eindringlich auf sie einredete und dann seinen Arm um ihre Taille legte und sie küsste, während Gislinde selbst keinen Muskel bewegen konnte. Wie taub fühlte sich ihr Körper an, ihre Hand, in der sie noch das Telefon hielt.
Falk.
Wie konnte er ihr das antun?
Durch den aufkommenden Tränenschleier sah sie, wie Falk sich von der Frau löste und schnellen Schrittes über den Platz eilte.
Jemand rempelte Gislinde an und riss sie damit aus ihrer Betäubung. Sie sah ungläubig auf ihr Handy, starrte auf Falk, der gerade ihrem Blick entschwand.
Die fremde Frau sah Falk ebenfalls hinterher. Möglicherweise war auch sie ein Opfer in Falks falschem Spiel und wusste es nur noch nicht. Oder Falk liebte diese Frau ebenfalls, liebte sie beide?
Trotz der sommerlichen Temperaturen war es Gislinde eiskalt. Gislinde entschloss sich, der Frau zu folgen, die soeben gemächlich in Richtung der Haupteinkaufsmeile wanderte. Sie musste die Wahrheit herausbekommen.
Charlotte
Ich bin so glücklich, ich könnte die ganze Welt umarmen, könnte pausenlos singen und tanzen. Mein Gesicht glüht, meine Körpermitte steht in Flammen. Ich fühle mich wie eine Göttin, die auf dem schaumgekrönten Meer spaziert, wenn er bei mir ist. Gleichzeitig bin ich traurig, wenn wir nicht zusammen sein können. Wenn er wieder auf Reisen ist, vermisse ich ihn so sehr, dass es weh tut. Dann hilft nur ein Blick auf den goldenen Ring, der unsere Liebe krönt. Und dennoch ist da ein Schmerz, als sei mir ein Körperteil amputiert worden, das erst nachwächst, wenn er wieder bei mir ist.
Fühlt es sich so an, wenn man verliebt ist? Jaaaa!
Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich verliebt habe. Michael, mein Ex-Mann, den habe ich auch geliebt. Aber dies hier ist komplett anders. Wenn Falk mich ansieht und berührt, verbrenne ich innerlich. Ich möchte mich permanent an ihn schmiegen, seine Haut spüren, sein ruhiges Atmen, seine Küsse, sein…
Dabei kennen wir uns erst ein paar Monate. Bei mir hat es sofort gefunkt, als ich ihn gesehen habe. Dieses Ziehen unterhalb meines Bauchnabels habe ich lange vermisst. Wenn mir das vorher einer gesagt hätte, dass man schon beim Anblick des richtigen Mannes dort Gefühle hat, hätte ich ihn ausgelacht.
In meinem Alter, dachte ich, lernt man nicht mehr viel dazu. Oh, wie habe ich mich geirrt!
Maria
Mein Name ist Maria. Dies wird eine längere Geschichte und keine schöne. Vielleicht wollen Sie mal herzhaft darüber lachen, wie blöd manche Menschen sind? Nur zu. Keine Hemmungen, ich erzähls Ihnen. Sie brauchen bloß zu lesen.
Es ist einfach und doch etwas kompliziert. Schließlich geht es nicht nur um Dummheit, sondern um Straftaten. Am Anfang …
Am Anfang stand Falk. Falk Wiesemann, der Betrüger. Dass er ein Betrüger ist, wusste ich natürlich nicht, als er mich ansprach. Für mich war es einfach der attraktivste Mann, der jemals Interesse an mir gezeigt hat.
Ich bin ein Dorfkind, wie man so schön sagt und das sieht man mir auch an. Mit einer Größe um die Einsachtzig bin ich weder zierlich noch interessant für die meisten Männer. Meine Haare sind so widerborstig, dass man daraus ohne Probleme einen ganz passablen Besen fertigen könnte. Nein, hässlich bin ich nicht, aber eben auch keine Prinzessin, der jeder Kerl hinterherschmachtet. Frauen mit breitem Kreuz und kräftigen Händen stehen leider nicht sehr hoch im Kurs, weshalb ich als einzige von uns sieben Geschwistern allein geblieben bin. Natürlich bin ich keine alte Jungfer, ich habe durchaus Erfahrungen gesammelt. Für Falk war ich dennoch das ideale Opfer. Leider.
Die Wege des Herrn
Ich beende die Seite mit einem schön verschnörkelten S und hoffe, Bruder Franziskus wird zufrieden sein mit meiner Arbeit. Die ganze Woche schrieb ich an diesem Text, malte Buchstaben für Buchstaben. Manierlich stehen sie beieinander, in gleichmäßigen Abständen und sehen aus, wie kleine Soldaten.
Mein Blick sucht das Pergament nach Tintenspritzern ab und möchte sich doch stattdessen so gerne dem hellen Licht des Sonnenstrahls anvertrauen, der seinen Weg zu mir in die Schreibstube gefunden hat. Das Pergament ist perfekt, soweit ich das beurteilen kann. Jedoch… Bruder Franziskus entdeckt auch den kleinsten Fehler. Ich muss abwarten, ob meine Arbeit seine Zustimmung findet, ehe ich meine Feder reinigen und in den Hof gehen darf. Vielleicht kann ich Bruder Ernestus noch ein wenig im Garten helfen.
Am Nachbarpult steht Bruder Alonsius. Er ist tief über das Pergament gebeugt, das er transkribiert. Graue Haare umkränzen seinen bleichen, kahlen Hinterkopf. Ob ich auch einmal so enden werde, wie er? Alt, den Rücken krumm, die Finger geschwollen und weiß im Gesicht, weil ich die Sonne zu selten gesehen habe?
Bruder Alonsius wechselt hin und wieder die Stellung seiner Füße. Sie schmerzen, wie die meinigen auch. Ob noch etwas von dem Pfefferminzöl in der Vorratskammer ist? Gottes natürliche Gaben wirken Wunder bei überanstrengten Gliedmaßen. Aber zuvor schickt der Herr den Schmerz, um uns daran zu erinnern, dass Gottes Werk zu tun, Mühsal und Qual bedeutet.
Manchmal frage ich mich, warum der Herr mich mit dieser zierlichen Handschrift gestraft hat. Viel lieber würde ich im Garten arbeiten, den Spaten in den Boden stechen, die Saat ausbringen oder selbstgezogene Pflänzchen setzen, auf dass sie wachsen und gedeihen. Stattdessen hat er mich mit dieser Bürde geschlagen, die mich dazu verdammt, jeden Tag an diesem Pult zu stehen und ein Pergament nach dem anderen mit Buchstabensoldaten zu füllen. Wenn doch nur Bruder Franziskus käme, mich zu erlösen. Und, Herr, vergib mir, könntest du dafür sorgen, dass jemand anderer meinen Platz ab morgen einnimmt?
***
Als ich die Tür öffnete, sah Bruder Aegidius mich erschrocken an. Als ob ich ihn gerade bei unreinen Gedanken ertappt hätte.
Zwölf Pfoten
Da saßen sie nun, die zwei Miezen, und bewachten das Mauseloch auf der Wiese. Das darin lebende Mäuschen tat mir leid, aber Mäusejagd ist nun mal die Natur der Katzen und meine beiden waren keine Ausnahmen. Ich beobachtete sie schon eine ganze Weile und hatte mein Vergnügen daran, wie aufmerksam und mit welcher Grazie sie agierten.
Ronja, die Kleinere, peitschte aufgeregt mit dem Schwanz. Der braune Fleck mitten in ihrem Gesicht gab ihr ein vorwitziges Aussehen. Das passte gut zu ihrem Wesen und, man muss es sagen, sie machte ihrem Namen alle Ehre, unsere kleine Räubertochter. So zierlich sie war, ging sie doch völlig ohne Angst auch auf die größten Kater los, die aus Versehen oder absichtlich unseren Garten durchquerten oder bestand andere Mutproben, die sich in so einem Katzenleben nicht vermeiden lassen. Mäusefangen stand auf ihrer Agenda aber ganz weit oben.
Sally, ihre Schwester, war ein ganzes Stück größer gewachsen. Weiß der Teufel, wie sie das geschafft hat. Sie saß aufrecht und würdevoll, wie eine ägyptische Statue da. Nur ihre Schwanzspitze bewegte sich leicht hin und her und verriet, dass auch sie aufgeregt auf das Erscheinen von Frau Maus wartete.
Während die beiden derart beschäftigt waren, winkte ich unserer Hündin Kara. Sie ist die Jüngste unserer Fellnasen, aber die Größte. Die Miezen können locker unter ihr hindurch laufen, was immer wieder für Erheiterung sorgt, wenn sie es tun. Karas Zeit für den Nachmittagsspaziergang war gekommen und auf mein Zeichen hin, sprintete sie eifrig zur Haustür. Chemisettchen umgelegt, Leckerchen rein in das stets hungrige Hundekind und los ging es.
Alwine und der Schatz
Stella, Alwines große Schwester, hatte beim Würfeln gewonnen und durfte deshalb entscheiden, wie die Familie den letzten Urlaubstag verbringen sollte. Natürlich wählte Stella den Strand, was Alwine fast zum Heulen gebracht hatte. Sie wäre doch viel lieber mit dem Rad gefahren, statt nur am Meer herum zu sitzen. Aber nein, Stella wollte den ganzen Tag am Strand verbringen. Entsprechend schlecht gelaunt saß Alwine deshalb nun im Sand und ließ die feinen Körner durch die Finger rieseln, während Papa auf der Luftmatratze im Wasser herumdümpelte, Mama und der kleine Jakob Karten spielten und Stella in der Sonne briet.
Auf einmal piekste sie etwas am Oberarm und als Alwine missmutig nachsah, was das war, sah sie direkt in die Augen eines himmelblauen Vogels, der sie – ja man muss es so sagen – frech ansah. Und als ob das nicht genug wäre, fing der Vogel auch noch an zu sprechen. „Na, du? Schlecht gelaunt?“
Alwine zögerte zuerst ein bisschen. Ein sprechender Vogel war ihr noch nie begegnet. Aber naja, was sollte schon passieren? Und da ihre Laune sich eben etwas besserte, ignorierte sie die Frage des Vogels und sagte: „He, wer bist denn du?“
Der Vogel reckte sich stolz in die Höhe, spreizte ein wenig das Gefieder und antwortete artig: „Ich bin dein PGLV.“