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Leseproben/Kurzgeschichten


Sein Bedürfnis, vor dieser dunklen Gestalt, die in der Öffnung aufragte, zurückzuweichen, war so natürlich wie sein morgendlicher Drang auf dem Gang zur Kloake. Beides war nicht zu unterdrücken. Orwig konnte ein innerliches Zusammenzucken nicht verhindern.

Die Frau trug ein langes, schwarzes Gewand, ohne jegliche Verzierung. Ihr Brustkorb war flach, der Bauch dafür deutlich vorgewölbt. Aber das war es gar nicht, was Orwig verschreckte. Ihr Kopf war bis auf ein paar Büschel gelblich- strohigen Haars kahl und tatsächlich völlig faltenlos, wie Marie gesagt hatte. Er saß auf einem äußerst dünnen Hals, der anmutete, als könne er das Gewicht nicht länger tragen. So ein hässliches Wesen hatte Orwig noch nie gesehen.

Ihre Stimme hingegen war angenehm, wie ein Streicheln. „Kommt herein, Herr Frerikson.“

Und das war das letzte freundliche Wort, das Orwig in seinem Leben hören sollte.

Heiners angebliche Schwester nickte ihrer vermeintlichen Tochter zu. Die glitt, nein schwebte nahezu über den Boden und zog den widerstandsunfähigen Dorfvorsteher in den Raum, der dem grünen Heiner bisher als Küche gedient hatte. Der Träger dieses hübschen Namens hatte jedoch mit dem ehemals kräftigen Bauern nichts mehr gemein, obwohl es erst zwei Tage her war, dass er den Besuch seiner Schwester und seiner Nichte im Dorf angemeldet und dabei sein dröhnendes Lachen hatte erschallen lassen.

Idelinde drückte Orwig neben das menschliche Wrack auf einen Stuhl und sah Gerafunde an. „Ich weiß nicht, ob wir ihn opfern müssen. Was denkst du?“

Orwig Frerikson tauchte die Feder ins Tintenfass, strich die überschüssige Tinte sorgfältig ab und erweiterte die Liste der Dorfbewohner um zwei Personen. Die  Zungenspitze des Dorfvorstehers glitt angestrengt über seine Lippen, während er mühsam die Buchstaben aneinanderreihte.

Gerafunde und Idelinde. Sie waren beim grünen Heiner eingezogen. Der behauptete, es handele sich um seine verwitwete Schwester und deren Tochter. Nur dass Orwig sich nicht daran erinnern konnte, dass der grüne Heiner jemals eine Schwester besessen hätte. Zudem hatte seine Frau ihm berichtet, dass die beiden recht seltsam aussahen. „Stell dir vor… Sie haben keinerlei Falten im Gesicht oder an den Händen“, hatte sie geraunt. „Sie sehen so glatt aus, wie zwei Eier. Schwer zu sagen, welche davon die Mutter sein soll.“

Die Faltenlosigkeit der beiden Frauen machte Orwig jedoch die wenigsten Sorgen. Er krauste die Stirn und schlug die vorhergehenden Seiten des Bestandsbuches auf. Fein säuberlich waren dort Namen verzeichnet und aus den danebenstehenden Daten war ersichtlich, dass der Zustrom an neuen Bewohnern in letzter Zeit rasant zunahm. Wenn das so weiterging, würde aus dem Dorf bald eine kleine Stadt werden. Orwig hatte sich noch keine abschließende Meinung dazu gebildet, fand aber auch keine Erklärung für das Interesse der vielen Ankömmlinge an diesem Ort. Kinkelstein war ein Dorf, wie jedes andere. Etwa neunzig Gehöfte reihten sich aneinander, mal größer, mal kleiner, mal gepflegt, mal etwas vernachlässigt, so wie das in anderen Dörfern auch der Fall war.

Einmal im Monat war auf dem Gemeindeplatz Markttag, zu dem Händler aus dem Umland herbeiströmten und ihre Waren feilboten, während die Kinkelsteiner die Gelegenheit nutzten, ihrerseits Fleisch, Milch, Käse, Gemüse, Brot und Speck an den Mann zu bringen, eben das, was sie selbst herstellten. Vielleicht erhofften sich die neuen Zuzügler Absatz für eigene Waren? Eine Weberei fehlte vor Ort und auch ein Schneider, der einmal frischen Wind in die jahrhundertealte Kleidertradition brachte. Es wäre tatsächlich Bedarf an neuem Handwerk da.

Orwig beschloss, den Grafen aufzusuchen und ihm von dem ungewöhnlichen Zustrom zu berichten. Gleich morgen würde er sich auf den Weg machen und den Kinkelstein erklimmen, auf dem die Burg thronte. Ein wenig Angst hatte er vor der Reaktion des Grafen. Man wusste nie, wie er reagierte. Allerdings wollte Orwig auch nicht riskieren, seine Beobachtung für sich zu behalten. Vielleicht würde der Graf sich über die neuen Steuerzahler freuen und ihn angesichts der guten Nachricht belobigen? Die Aussicht auf ein paar zusätzliche Taler erzeugte ein angenehmes Gefühl in seiner Leibesmitte. Und auf dem Weg zur Burg würde er sich Heiners Schwester und deren Tochter ansehen, schon, um Marie beruhigen zu können. 

Am nächsten Morgen verabschiedete Orwig sich in der Früh von seiner Frau. 

Fräulein Sieglinde ließ ihn rufen. Gunnar konnte es immer noch nicht fassen. Seit zwei Jahren staunte er die schöne Sieglinde aus der Ferne an und heute durfte er sogar in ihre Kemenate, in die Nähe der Verehrungswürdigen.

Gunnar eilte die Treppen hinauf, nahm immer gleich zwei Stufen auf einmal und verharrte dann doch vor der Tür seiner Angebeteten. Während er verschnaufte, strich er sich das Haar noch einmal glatt und richtete sein Wams. Sein Herz klopfte, nicht nur weil der Treppenspurt ihm den Atem genommen hatte. Sieglinde, sangen seine Herzschläge ein ums andere Mal. Sieglinde.

Die Tochter des Jobst von Mähren galt als spröde. Aber vielleicht sagten das nur die zahllosen Verehrer, die das schöne Fräulein abgewiesen hatte. Gunnar war bereits seit ihrer ersten Begegnung in sie verliebt. Damals zählte er gerade fünfzehn Lenze, war erst einige Tage am Hof des Mähren und durfte dem Fräulein behilflich sein, als es die Kutsche verließ. Seitdem gab sein Herz keine Ruhe mehr und klopfte und tanzte, wenn es gelang, Sieglinde einmal zu sehen.

Unsere Klasse bestand aus siebenundzwanzig Mädchen und zwei Jungen – eine Konstellation, die zumindest für die beiden männlichen Vertreter eine Herausforderung gewesen sein dürfte. Ich kann das nicht so beurteilen, weil ich eine von den siebenundzwanzig jungen Damen war und entsprechend in der Masse unterging, aber die Annahme, dass es nicht so einfach war, sich gegen eine solche Übermacht zu behaupten, liegt nahe und wird von den nachfolgend geschilderten Ereignissen ganz gut illustriert.

Man kann sich vorstellen, dass die beiden jungen Männer täglich genauer beäugt wurden. Schließlich waren wir alle zwischen sechzehn und siebzehn und damit in der Phase, in der wir uns selbst profilieren und gleichzeitig Genaueres über die Reaktionen und Befindlichkeiten des anderen Geschlechts in Erfahrung bringen wollten.

Wer jetzt erwartet, dass Frank und Frank romantisches Interesse weckten, den muss ich leider enttäuschen. Der eine Frank war recht klein und zierlich, zudem mit einer Behinderung versehen, die ihn wenig attraktiv machte. Aber er war ein pfiffiger, anpassungsfähiger Kerl, der wusste, wie man sich beliebt machte.

Der andere Frank war zwar körperlich nicht versehrt, aber vom Wesen her sehr ungelenk und daher nicht in der Lage, uns lange standzuhalten. Von ihm handelt diese Geschichte.

Ich sitze mitten in der Stadt und sehe mir die Leute an, die an mir vorbei laufen. Manche geschäftig, andere wieder geruhsam, die nächsten gedankenverloren oder einfach nur in Eile, den schönen Frühlingstag gar nicht wahrnehmend.

An meinem Platz scheint mir die Sonne auf die Nase. Ein laues Lüftchen streichelt mein Gesicht und sagt mir, was für ein toller Tag das sein könnte.

Beim Anblick der vielen Leute denke ich darüber nach, wie es wäre, in einer anderen Haut zu stecken.

Vielleicht ist das dort eine geeignete Kandidatin? Ihr Gesicht ist fröhlich. Sie telefoniert und ich sehe ihr an, dass sie glücklich ist. Wenn ich in ihre Haut schlüpfen würde, erwartet mich dann die Liebe, nach der ich mich so sehne?

Oder da, die beiden Asiatinnen. Ihre Augen strahlen. Sie kichern und schnattern  in ihrem Singsang, lachen und sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich nicht sehen, obwohl sie mich fast streifen.

Ich schaue ihnen hinterher und versuche, mich über ihre Zweisamkeit zu freuen. Es gelingt mir nur ein kleines bisschen. Zu sehr bin ich mit meiner eigenen Haut verwachsen.

Heide angelte mit dem Fuß nach ihrem Pantoffel, der sich ihren Bemühungen zum Trotz immer weiter unter das Sofa schob. Schlaftrunken gähnte sie. Irgendetwas hatte sie geweckt.

Sie war gegen sieben Uhr vom Dienst nach Hause gekommen und wollte sich nur kurz bei einem Tee auf dem Sofa entspannen. Offensichtlich war sie eingeschlafen, bevor sie auch nur einen Schluck aus der Tasse genommen hatte, die sie nun anklagend ansah. Inzwischen war der Tee natürlich kalt.

„Komm her, du Biest“, schimpfte Heide und kniete sich in den Spalt zwischen Sofa und Tisch. „Da bist du ja!“

Triumphierend zog sie den widerspenstigen Pantoffel aus der Dunkelheit und angelte gleich noch zwei Chips hervor, die es sich dort ebenfalls gemütlich gemacht hatten. In diesem Moment ertönte ein Geräusch. Etwas kratzte an ihrer Haustür.

Brummelnd stemmte Heide sich hoch, steckte den Fuß in den abtrünnigen Hausschuh und ging zur Tür. Durch die Scheibe sah sie das draußen tobende Schneegestöber. Dicke Wolken verdunkelten den Tag. Es konnte doch noch nicht Nachmittag sein, oder?

Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigte, dass es erst kurz vor Zwölf war.

Aus Vernas Ecke klang helles Lachen. Ich merkte direkt, wie mir ein Hauch Missmut übers Gesicht flog.

Schon wieder.

Ich hatte die Nase gestrichen voll. Vernas Frohnatur war nicht tot zu kriegen, während bei mir selbst alles schief lief. Immer.

In Vernas fröhliche Laute mischte sich das Lachen der Kolleginnen. Wieso fand sich eigentlich niemand, der mit mir lachen wollte?

Resigniert schüttelte ich den Kopf. Natürlich war Verna meine beste Freundin und ich mochte sie sehr. Dies hielt mich jedoch nicht davon ab, einen hässlichen Neid auf Verna zu entwickeln. Ich wünschte so sehr, ich könnte diesen Neid auf sie unterdrücken. Aber das bekam ich beim besten Willen nicht hin, was meinen Ärger über mich selbst regelmäßig steigerte.

Verna hatte immer Glück, während meine Pechsträhne gar nicht wieder aufhören wollte. Schon in der Schulzeit war das so. Wenn ich mir bei der ersten Gelegenheit einen Wadenkrampf zuzog, glänzte Verna mit sportlichen Leistungen. Schrieb Verna in der Klausur die volle Punktzahl, verfehlte ich die guten Noten um einen Punkt. Vernas Brüste waren zuerst gewachsen und ich wurde lange nur als Plättbrett bezeichnet. Das erklärte auch, warum Verna bei den Jungs gefragter war als ich. Später hatte Verna sich dann in Bruno verliebt. Der sah zwar nicht besonders gut aus, war aber charmant und liebte Verna nach sieben Ehejahren und zwei Kindern immer noch wie am ersten Tag. Wie jedoch zu erwarten war, hockte ich mit achtundzwanzig allein zu Hause herum und sehnte mich nach einer eigenen Familie, die noch nicht mal annähernd in Sichtweite kommen wollte. Es war zum Verzweifeln!

Ich seufzte. Natürlich hörte es mal wieder niemand. Heute Morgen war mir aus Versehen eine Tasse Kaffee umgekippt. Anschließend musste ich zum Protokoll in die Chefetage, wo mein durchnässter Rock mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen wurde. Immer passierten solche Missgeschicke nur mir. Die Kollegen grinsten hämisch, als ich vorbeilief und mir entging das nicht. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihnen allen mal richtig in den Hintern getreten. Wenigstens verbal. Aber dazu fehlte mir der Mumm.