Leseproben/Kurzgeschichten
Fifty-fifty
Helene schob die Brille hoch und betrachtete das Exemplar, das verdächtig nach einem Knollenblätterpilz aussah, von allen Seiten. Wenn sie jung waren, konnte man sie schnell mit einem Champignon verwechseln. Helene schnupperte an dem Pilz. Er roch gar nicht schlecht, leicht nach Honig. Vorsichtshalber legte sie ihn trotzdem zur Seite. Man konnte ja nie wissen.
Luzie hatte ihr heute Morgen das Körbchen voll Champignons gebracht. Sie wusste, dass Helene keine Pilze aß, aber sie hatte extra für Hubert gesammelt. „Beste Grüße an das Faultier. Vielleicht wird er nach einem deftigen Mittagessen ja etwas munterer.“
Helene lächelte. Die liebe Luzie. Sie hatte sich in den letzten Monaten zu einer guten Freundin gemausert und da sie gleich nebenan wohnte, konnte Helene ihr schnell mal das Herz ausschütten, wenn sie es mit Hubert gar nicht mehr aushielt. Luzie hörte einfach zu und sparte sich dumme Ratschläge. Das war heutzutage Gold wert, wo jedermann dachte, er hätte die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Hubert war immer noch nicht wach. Helene presste ärgerlich die Lippen zusammen, während ihr Messer kleine Unreinheiten von den Pilzen schabte und den Stielansatz wegschnitt.
Seit Hubert im Ruhestand war, entwickelte er sich immer mehr zum Langschläfer und Morgenmuffel und entsprach damit so ganz und gar nicht den Vorstellungen seiner Ehefrau, die sich entgegen aller Warnzeichen einen energiegeladenen und unternehmungslustigen Rentner an ihrer Seite vorgestellt hatte. Bei genauer Betrachtung war es nur Helenes sonnigem Gemüt zu verdanken, dass ihr Zusammenleben noch irgendwie einer Ehe ähnelte. Hubert beteiligte sich überhaupt nicht an irgendwelchen Aktivitäten, ließ sich von ihr bedienen und verlor allem Anschein nach, Stück für Stück jeglichen Anstand.
Die Fliegenklatsche
Katastry Bollardshyk, den seine Kameraden schlicht Katsy Bo nannten, starrte auf das Ding, das dort aus dem Hügel ragte. Es glänzte verheißungsvoll im Lichtschein des gelben Zwerges. Silbern, elegant geformt und wunderschön.
Sie hatten wegen eines Defekts auf dem blauen Urbs eine Zwischenlandung eingelegt. Das ging, seitdem die Strahlung nach der Katastrophe und den nachfolgenden Räumarbeiten wieder ein erträgliches Maß angenommen hatte. Zwar war der blaue Urbs schon lange nicht mehr blau, aber sein ursprünglicher Name blieb ihm erhalten. Katsy fand das ganz charmant und stellte sich gern vor, wie der Urbs früher ausgesehen haben mochte.
Während Pi Daslow die Reparatur am Schiff erledigte, waren Katsy und die anderen auf der Suche nach einem Souvenir ausgeschwärmt. Und da war er auf dieses Ding gestoßen. Es sah aus, wie eine überdimensionale Fliegenklatsche.
Praktikum
Nurola beugte sich vor und lenkte Twixels Aufmerksamkeit auf ein kleines Mädchen, das abseits von den spielenden Kindern saß. „Das ist Sylvia.“
Twixel riss die Augen auf. „Die ist aber noch ziemlich klein!“
„Ja, aber das tut nichts zur Sache. Du bist während deines Praktikums für sie zuständig. Ich bleibe noch eine Weile bei dir. Also schau, dass du nicht vergisst, was du gelernt hast.“
Twixel betrachtete die Szene, die sich vor ihm abspielte.
Sylvia saß auf der Treppe, die in eine Art Hinterhaus führte. Die roten Backsteine waren vom vielen Benutzen dunkel verfärbt und ausgetreten und das ehemals grüne Treppengeländer war rostzerfressen. Das kleine Mädchen sah traurig aus und das war wohl auch so, schließlich vergnügten sich die anderen Kinder damit, einen Federball über eine straff gespannte Wäscheleine zu schießen, während sie nur zusehen durfte. Warum das so war, konnte Twixel nicht erkennen. Vielleicht, wenn er sich zu Sylvia setzte? Er sah Nurola fragend an und als diese nickte, huschte er zu Sylvia hinüber und quetschte sich neben sie auf eine der Stufen. Sylvia bekam davon nichts mit, denn ausgebildete Schutzengel, so einer war Twixel oder wollte es werden, sind bekanntermaßen unsichtbar. Vielleicht spürte Sylvia einen warmen Windhauch. Sie sah einen Augenblick zur Seite und rutschte dann ein paar Zentimeter nach links, als wolle sie Platz schaffen.
Wie die Würfel fallen
Georg hörte Elsbeths Schnaufen, obwohl sie inzwischen etwa 20 Meter hinter ihm zurückgeblieben war. Es klang, als ob ein Walross verenden würde.
„Verdammt Georg, nun warte doch mal auf mich!“
Elsbeths Stimme hatte einen Ton angenommen, den Georg nach fast 42 Ehejahren recht gut zu deuten wusste. Sie war erschöpft, ungehalten, weil er stets vornweg turnte, und nörgelig, weil sie viel lieber am Strand oder in einer Hängematte unter Palmen liegen würde. Stattdessen musste sie mit ihm die Sommerferien in den Bergen verbringen. Nun, die Würfel hatten darüber entschieden. Daran gab es nichts zu rütteln.
Georg liebte die Berge, Elsbeth liebte Strand und Meer. Vor langer Zeit hatten sie deshalb vereinbart, dass sie um das Ziel ihres Sommerurlaubs würfeln würden. Wer die höhere Summe erspielte, gewann.
Georg bestellte im Internet extra Würfel, die in unterschiedlichen Farben leuchteten, wenn sie auf der Tischplatte auftrafen. Das fand er dem Anlass angemessen, denn schließlich war der Jahresurlaub doch etwas Besonderes und konnte nicht mit irgendwelchen abgegriffenen Holzklötzchen aus der Spieleschublade entschieden werden. Seine Frau fand die Idee gut und versuchte stets mit neuem Enthusiasmus und voller Hoffnung das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden.
Ruhe sanft
„Ach“, sagte die alte Dame begeistert. „Ist es hier nicht wie im Paradies?“
Manfred Strusella sah sie benommen an. Paradies? Dies hier?
Verzweifelt schloss er die Augen und versuchte, den dicken Kloß in seinem Hals herunter zu schlucken. Sein erster Schrei bahnte sich den Weg durch seine Kehle, ein Schrei wie ihn der Ort noch nie gehört hatte. Und noch ein Schrei, gellend, unmenschlich, gefolgt von einer Serie von Lauten, die dieses scheinheilige Städtchen erschütterten. Strusella konnte gar nicht wieder aufhören.
Vöglein
Bernard schob die falschen Zähne noch einmal zurecht und lächelte sich zufrieden im Spiegel zu. An dessen Seite klebte das großformatige Bild des Henry Satuffé, dem Bernard dank seines Könnens inzwischen sehr ähnlich sah. Der eigentliche Träger des Namens Satuffé lag, mit Klebeband gekonnt verschnürt, im Kleiderschrank seines Hotelzimmers im „Vier Jahreszeiten“, wo er auch die nächsten 12 Stunden zubringen würde.
Tatsächlich stand ihm, wie Bernard bei einem letzten Blick in den Spiegel fand, das grau gefärbte Haar gut und verlieh ihm den gewünschten seriösen Anstrich. Perfekt.
Stille
Susans sorgsam gehegtes Universum verschob sich zum ersten Mal, als ihr Fahrrad mit einem Stein kollidierte und sie in hohem Bogen in eine andere Welt katapultierte. Natürlich waren die erlittenen Verletzungen äußerst schmerzhaft. Noch schmerzhafter war jedoch die Gewissheit, in der nächsten Zeit auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Nicht, dass Susan eine Misanthropin wäre, aber sie hatte das Heft schon gerne in der Hand und bestimmte selbst, wer in ihrem Dunstkreis verweilen durfte.
Vielleicht war Susans Widerwille gegen die erzwungene Nähe zu anderen Patienten, Pflegekräften und Ärzten der Motor für ihre schnelle Wiederauferstehung nach der Operation. Bereits zwei Tage später begann sie mit den ersten Rundgängen durch das Krankenhaus. Zwar begegneten ihr auch dort Menschen, aber denen konnte sie gut ausweichen und glücklicherweise gab es genug stille Ecken, in denen sie das Alleinsein genießen konnte.